Das Mädchen mit dem Perlenohrring: Geheimnisvolles Schlüsselwerk des Barock

Das Mädchen mit dem Perlenohrring: Geheimnisvolles Schlüsselwerk des Barock

27.10.22
ars mundi

Sie dürfte zu den berühmtesten Frauen der Kunstgeschichte gehören: Das "Mädchen mit dem Perlenohrring" im Gemälde von Jan Vermeer van Delft. Der holländische Maler hatte das Bild, das heute zu den wichtigsten Kunstwerken des Barock gezählt wird, etwa im Jahr 1667 fertiggestellt. Das Gemälde, das auch unter dem Namen "Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge", "Porträt einer jungen Frau mit Perlenohrringen" und sogar "Mona Lisa des Nordens" bekannt ist, befand sich lange in Privatbesitz und wurde 1902 testamentarisch an das Den Haager Mauritshuis vermacht. Seitdem befindet es sich in dessen Sammlung und ist der große Publikumsmagnet des Hauses.

Das nur 45 Zentimeter hohe und 40 Zentimeter breite Bild gehört nicht nur zu den bekanntesten Kunstwerken aller Zeiten, es inspirierte auch zahlreiche Autorinnen und Autoren. Im Jahr 2003 wurde Tracy Chevaliers Roman "Das Mädchen mit dem Perlenohrring" von Peter Webber mit Scarlett Johansson als die Magd Griet und Colin Firth als Jan Vermeer verfilmt.

Jan Vermeer – der Schöpfer vom Perlenohrring Gemälde

Zweifelsohne handelt es sich bei dem "Mädchen mit dem Perlenohrring" um das berühmteste Gemälde von Jan Vermeer van Delft. Auch wenn er als einer der wichtigsten holländischen Maler des Barock gilt, gibt es über seine Biografie vergleichsweise wenig gesicherte Angaben. So soll er eine handwerkliche, aber keine künstlerische Ausbildung erhalten haben. Eine überlieferte Mitgliedschaft in der Delfter Malergilde zeugt aber vom großen Renommee, das er als Maler bereits zu Lebzeiten genoss. Allerdings ist sein heute bekanntes Œuvre sehr klein. Es existieren nur 37 Gemälde, die ihm mit Sicherheit zugerechnet werden können. Die geringe Anzahl an Bildern lässt sich dadurch erklären, dass Vermeer sich wohl für seine Arbeiten immer außerordentlich viel Zeit ließ und teils Jahre verstrichen, bis er ein Bild fertiggestellt hatte.

Zu den Motiven Vermeers gehörten Landschaften, Historienbildern sowie Genreszenen. Viele seiner Gemälde zeigen Einblicke in das alltägliche Leben seiner Zeitgenossen, zum Beispiel eine Magd bei der Arbeit oder einen Maler im Atelier. Vermeer legte dabei größten Wert auf handwerkliche Perfektion und arbeitete die Details in seinen Gemälden sehr akribisch aus. Außerdem gilt er bis heute als ein Meister darin, die Lichtverhältnisse und Perspektiven besonders realistisch darzustellen.

Der Mythos und viele offene Fragen rund um das Perlenohrring Gemälde

Auf den ersten Blick beeindruckt das berühmte Perlenohrring Gemälde durch seine Lebendigkeit und seinen vermeintlichen Realismus. So perfekt, wie das Motiv ausgearbeitet ist, liegt die Vermutung nahe, dass Jan Vermeer hier ein Porträt von einer realen Person gemalt hatte. Doch der Anschein trügt, denn gleich mehrere Aspekte im Zusammenhang mit dem Gemälde deuten darauf hin, dass Vermeer hier eher eine meisterliche Illusion schuf.

Da wäre zunächst einmal die Identität des Mädchens zu nennen. Immer wieder wurde darüber spekuliert, um wen es sich bei ihr handeln könnte. Mal hieß es, es sei eine der Töchter Vermeers, mal, es sei ein bezahltes Modell. Letztendlich klären ließ sich diese Frage allerdings nicht. Vielmehr wird heute davon ausgegangen, dass es sich bei diesem Gemälde um eine sogenannte Tronie handelt. Dieser Bildtypus, der im 17. Jahrhundert populär wurde, unterscheidet sich insofern von einem Porträt, als dass er keine reale Person abbildet. Vielmehr soll die Tronie einen allgemeinen Typus von Menschen in porträtähnlicher Form zeigen oder als Studie dienen. Auch wenn es naheliegt, dass auch für die Tronien reale Personen Modell gestanden haben, bleiben die dargestellten Figuren immer anonym.

Doch nicht nur das Mädchen, sondern auch die namensgebende Perle am Ohr wirft einige Fragen auf. Insbesondere die Größe des Schmuckstücks lässt daran zweifeln, dass das Gemälde ein Abbild der Realität ist. Nimmt man beispielsweise die Augen des Mädchens als Maßstab, wird deutlich, dass die Perle außergewöhnlich groß gewesen sein muss. Da eine echte Perle mit diesen Ausmaßen ausgesprochen kostbar und teuer gewesen wäre, gibt es Vermutungen, dass es sich bei dem Schmuckstück eher um eine Glasperle oder eine versilberte Kugel handeln könnte. Ebenso wahrscheinlich ist, dass Vermeer hier in der Darstellung absichtlich weit von der Realität abrückte und die Perle übergroß malte.

Eine Untersuchung 2018 brachte viele neue Erkenntnisse

Das berühmte Barock-Gemälde birgt also viele Geheimnisse. Neue und vor allem fundierte Erkenntnisse über das Bild, den Maler und seine Arbeitsweise erhoffte man sich von einer groß angelegten wissenschaftlichen Untersuchung des Gemäldes im Jahr 2018.

Zwei Wochen lang wurde das Perlenohrring Gemälde im Mauritshuis von einem interdisziplinären Forscherteam eingehend untersucht. Um das Werk Millimeter für Millimeter und durch alle Farbschichten hindurch zu analysieren, kamen verschiedene Technologien wie modernste Scanner, Mikroskope und Röntgengeräte zum Einsatz. Der große Vorteil dieser Verfahren war, dass das Gemälde nicht verletzt werden musste, zum Beispiel durch Entnahme von Farbproben oder Partikeln der Leinwand. Die Untersuchung und die anschließende rund zweijährige Analyse der ermittelten Daten ergab eine Reihe neuer und teils überraschender Erkenntnisse:

  • Der Hintergrund des Gemäldes ist als sehr dunkel bis schwarz bekannt. Auch viele kunsthistorische Bildanalysen verweisen darauf und merken an, dass vor diesem Hintergrund die anderen Farben besonders kräftig leuchten. Doch die Untersuchung brachte einen Faltenwurf und grüne Farbe zutage, so dass davon auszugehen ist, dass Jan Vermeer ursprünglich hinter dem Mädchen keine schwarze Fläche, sondern einen tiefgrünen Vorhang gemalt hatte. Allerdings sind die Farben über die Jahrhunderte verblichen und der Vorhang ist nicht mehr erkennbar.
  • Ein weiteres Detail offenbarte sich bei der Untersuchung der Augen des Mädchens. Jan Vermeer hatte sich bei dem Perlenohrring Gemälde um eine sehr realistische Darstellung bemüht. Umso merkwürdiger schien es da, dass in der Augenpartie des Mädchens keine Wimpern zu erkennen sind. Ein Röntgen-Scan ergab nun, dass Vermeer die Wimpern mit feinen Strichen sehr wohl gemalt hatte. Aber auch diese waren im Lauf der Zeit durch chemische Prozesse ausgeblichen.
  • Ein besonders spektakuläres Ergebnis brachte die Analyse des Perlenohrrings. Bis dato wurde kaum hinterfragt, dass es sich bei der Perle am Ohr um ein Schmuckstück handelt. Dies wurde allerdings in der Untersuchung widerlegt. Denn tatsächlich fehlt der Perle das Häkchen, mit dem sie am Ohr befestigt sein müsste. Bei der Perle handelt es sich also im eigentlichen Sinne gar nicht um einen Ohrring, denn sie schwebt völlig frei im Raum. Warum Vermeer diese Darstellung wählte, ist nicht bekannt.
  • Bei der wissenschaftlichen Analyse konnte zudem erstmals mit Sicherheit festgestellt werden, welche Farben Jan Vermeer beim Perlenohrring Gemälde verwendet hatte. Seine Farbpalette bestand im Wesentlichen aus Rot, Gelb, Braun, Blau, Schwarz und Weiß. Vermeer nutzte außerdem auffallend viel Ultramarin, zum Beispiel für die Kopfbedeckung und die Jacke. Dies ist insofern ungewöhnlich, als dass Ultramarin im 17. Jahrhundert ein besonders kostbarer und damit außerordentlich teurer Farbstoff war.

Mit der Analyse des Gemäldes im Mauritshuis konnte der Wissensstand zum "Mädchen mit dem Perlenohrring" bedeutend erweitert werden. Auf die für viele Menschen wichtigste aller Fragen, nämlich wer das Mädchen auf dem Bild ist, wurde allerdings immer noch keine Antwort gefunden.