"Die große Welle vor Kanagawa": die japanische Welle und ihre Bedeutung

"Die große Welle vor Kanagawa": die japanische Welle und ihre Bedeutung

13.06.24
ars mundi

Es ist das bekannteste Kunstwerk aus Japan und eines der beliebtesten Meeresbilder noch dazu: "Die große Welle vor Kanagawa" von Katsushika Hokusai (1760-1849). Der Holzschnitt ist das erste Blatt aus einer Serie von 36 Motiven, die der japanische Künstler ab 1830 als Auftragsarbeiten geschaffen hatte.

Der Bilderzyklus zeigt verschiedene Ansichten des Berges Fujii und der ihn umgebenden Landschaft. Doch keines der anderen Motive aus dieser Serie erlangte die gleiche Bedeutung wie "Die große Welle vor Kanagawa". Von dessen Original-Druckstöcken sollen über 8.000 Abzüge gemacht worden sein. Von diesen ist allerdings nur noch ein Bruchteil erhalten. Weniger als 200 Exemplare sollen heute noch im Umlauf sein.

Die Reproduktionen weisen unterschiedliche Qualitäten hinsichtlich der Farben und der Bilddetails auf. In vielen Kunstinstitutionen auf der ganzen Welt sind Versionen dieses Werks zu finden, unter anderem im Britischen Museum in London, im Nationalmuseum Tokio, im Metropolitan Museum of Art in New York City, in der Bayerischen Staatsbibliothek in München und im Rijksmuseum Amsterdam.

Katsushika Hokusai: Der Meister hinter der großen Welle

Der Schöpfer dieses heute weltberühmten Holzschnitts, Katsushika Hokusai, gilt heute als bedeutendster Vertreter des sogenannten Ukiyo-e. Dieser Stil war die vorherrschende künstlerische Ausdrucksform in der Edo-Phase Japans zwischen 1608 und 1868.

Hokusai schuf nicht nur selbst viele Werke, sondern lehrte auch die Kunst des Zeichnens und des Holzschnitts. Allerdings arbeitete er nicht immer unter dem gleichen Namen. Über dreißig verschiedene Pseudonyme soll er in seiner Karriere verwendet haben.

Hokusais heute bekanntestes Werk, dessen Titel ursprünglich "Unter der Welle im Meer vor Kanagawa" lautete, ist auch im 21. Jahrhundert eine weltweite Ikone. In vielen Bereichen von Kultur und Wirtschaft hat die japanische Welle Bedeutung. Unzählige Male wurde sie kopiert, zitiert und variiert. Das Motiv der Welle wurde sowohl in der Werbung verwendet als auch auf zahlreiche Produkte gedruckt. Für Japan ist die "Große Welle" auch heute noch eine wichtige Werbeträgerin und Botschafterin für das Land und die Kultur.

Die große Bedeutung der "Großen Welle vor Kanagawa" würdigte die Zentralbank Japans im Jahr 2024 und machte sie zum Motiv auf der 1000-Yen-Banknote.


"Die große Welle vor Kanagawa" ist eines der bedeutendsten Werke der Edo-Zeit und des Ukiyo-e

Der Künstler Katsushika Hokusai schuf sein berühmtes Werk im Jahr 1832. Zu dieser Zeit stand Japan unter der Herrschaft des Tokugawa-Shogunats. Die Shogun verfolgten in dieser auch "Edo-Zeit" genannten Phase eine strikte Politik der Abschottung gegenüber weiten Teilen der - vor allem westlichen - Welt. Nur wenigen Handelsvertretern aus China, Korea und den Niederlanden war der Zugang zu Japan erlaubt.

Trotz oder wohl auch wegen des konsequenten Protektionismus brachte es Japan in dieser Zeit zu wirtschaftlichem Wohlstand. Die politische und wirtschaftliche Abschottung Japans hatte aber auch Auswirkungen auf die Künste. Die florierende Wirtschaft brachte viele wohlhabende Kaufleute hervor. Diese wiederum interessierten sich zunehmend für Kunst und Kultur. Theater, Musik, Mode, Literatur und auch die bildende Kunst erlebten einen Aufschwung.

In der Malerei und im Holzschnitt wurde "Ukiyo-e" zum wichtigsten Stil, der die bunte Welt der Feste, des Genusses und des Luxus in den Mittelpunkt stellte. Seine Kunstschaffenden zeigten in ihren Werken sowohl das schillernde Leben in der Stadt als auch ländliche Szenen und Seestücke.


Auch Hokusai übte sich in der Kunst dieses Stils. Er war schon über 60 Jahre alt, als er den Auftrag erhielt, eine Serie von Holzschnitten vom Berg Fujii anzufertigen. Innerhalb von fünf Jahren schuf er unter dem Titel "36 Ansichten des Berges Fuji" eine Reihe von Holzschnitten, die die Landschaft rund um den Vulkankegel zeigte. "Die große Welle" zeigt einen Blick von See aus auf den Fujii, doch dieser basiert wahrscheinlich nicht auf persönlichen Eindrücken des Künstlers. Vielmehr entsprang die Szene wohl eher seiner Fantasie, in der er sich vorstellte, wie ein Blick vom Meer aus auf den Berg aussehen könnte.

Die große Welle vor Kanagawa - Bildbeschreibung

Katsushika Hokusai: Bild 'Die große Welle vor Kanagawa'

Dem Titel des Werks zufolge zeigt das Bild eine Szene, die sich in der Bucht der Präfektur Kanagawa - zu der heute auch Tokio gehört - abgespielt haben könnte. Im Wesentlichen setzt sich das Motiv aus drei Bildgegenständen zusammen

  • aus Wellen,
  • Fischerbooten
  • und dem Berg Fujii.

Hinzu kommen noch einige Wolken am Himmel sowie in der linken oberen Ecke der Titel und die Signatur des Künstlers.

Das Hauptmotiv bildet die namensgebende mächtige Welle, die sich auf der linken Bildseite auftürmt und fast die Hälfte des Holzschnitts einnimmt. Ins Auge fallen hier besonders die Schaumkronen. Diese scheinen sich zu einem Heer aus Krallen auszuformen. Manche "Die große Welle vor Kanagawa"-Bildbeschreibung will in der Gischt sogar Gespenster erkennen. Andere sehen hier Skelette oder die Silhouette eines Drachens. Bedrohlich türmt sich die Welle auf und scheint kurz davor zu stehen, über den drei Fischerbooten zusammenzuschlagen. Die Fischer kämpfen bereits erkennbar mit der aufgewühlten See und versuchen, ihre langen Boote am Kentern zu hindern.

In dem schweren Wellengang gibt es aber einen Lichtblick: Durch einen Korridor gibt das Wasser den Blick auf den Bildhintergrund frei. Hier platzierte Hokusai den Fujii, der vielen Japanern als heilig gilt. Den Berg hinterlegte Hokusai mit grauer Farbe, sodass sein schneebedeckter Gipfel wie ein Leuchtfeuer am Horizont strahlend leuchtet.

Hokusai vereint in seinem Farbholzschnitt Tradition und Innovation

Hokusai fertigte die "Große Welle vor Kanagawa" mit der in Japan traditionsreichen Technik des Farbholzschnitts an. Bei diesem Druckverfahren werden die Motive in Holzplatten geschnitzt. Anschließend werden die Farben per Hand auf diese Druckstöcke aufgetragen. Dabei muss für jede der gewünschten Farben eine eigene Druckplatte angefertigt werden. Im letzten Schritt wird das Bild auf das Papier übertragen, wodurch eine Druckgrafik entsteht.

Hokusai ließ wahrscheinlich dem eigentlichen Holzschnitt zahlreiche Zeichnungen vorausgehen, die später als Vorlagen für das Schnitzen der Druckplatten verwendet wurden. Die Farbdrucke, die mit dem originalen Holzblock angefertigt wurden, haben die Maße 25 cm × 37 cm. Für die Kolorierung kamen mindestens sieben Farben zum Einsatz: Dunkelblau, Hellblau, Mittelblau, Hellgrau, Dunkelgrau, Beige und Rosa. Besonders auffällig ist das kräftige Dunkelblau, das Hokusai für die Darstellung des Meeres wählte. Hierbei handelt es sich um eine große Innovation. Hokusai war einer der ersten Holzschnitt-Künstler, die das Preußischblau für sich entdeckten.

Hokusai verwendete das damals in Japan noch weitestgehend unbekannte "Preußischblau" (auch "Berliner Blau"). Es handelt sich um einen lichtechten, besonders kräftigen Blauton. Dieses Pigment wurde Anfang des 18. Jahrhunderts in Deutschland erstmals hergestellt und an der Wende zum 19. Jahrhundert auch nach Japan exportiert.


Hokusais Holzschnitt beeinflusste maßgeblich die Kunst Europas im 19. Jahrhundert

"Die große Welle vor Kanagawa" war zu Lebzeiten Hokusais ein durchaus beliebtes Motiv in Japan und wurde in hohen Stückzahlen reproduziert. Dass "Die große Welle vor Kanagawa" von Bedeutung in Hokusais Heimat war, hing ebenfalls mit der Abschottungspolitik der Shogun zusammen, die kaum Kulturgüter aus anderen Ländern zuließ.

Deutlich bemerkenswerter aber war der Status, den dieser Holzschnitt erst in Europa und später im Rest der Welt erlangte. Nach Ende der Isolation Japans ab den 1860er-Jahren begann neben der wirtschaftlichen Öffnung auch ein Austausch von Kunstwerken.

In dem als "Japonismus" bezeichneten Prozess wurden viele Werke japanischer Künstlerinnen und Künstler nach Amerika und Europa exportiert. "Die große Welle vor Kanagawa" wurde erstmals öffentlich 1867 in Paris ausgestellt. Möglicherweise aber fanden einige Drucke schon vorher den Weg nach Europa.


Zahlreiche berühmte Maler zeigten sich von der exotischen Kunst Japans fasziniert, zum Beispiel Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Egon Schiele und Gustav Klimt. Claude Monet baute sogar eine eigene Sammlung mit über 250 Werken aus Japan auf, etwa 20 davon stammten von Hokusai.

Auch andere Künstlerinne und Künstler ließen sich von der "Großen Welle" inspirieren. So wählte der Komponist Claude Debussy den Holzschnitt als Titelbild für die erste Ausgabe der Partitur seiner Komposition "La Mer" und die Bildhauerin Camille Claudel zitierte ihn unverkennbar in ihrer Skulptur "Welle".

"Die große Welle vor Kanagawa"-Interpretation - ein Werk voller Symbolik

"Die große Welle vor Kanagawa" beeindruckt nicht nur aufgrund seiner Ästhetik und brillanten technischen Ausführung. Das Bild fasziniert auch wegen seiner Symbolik und der vielen Deutungsmöglichkeiten. Hokusai selbst soll es bei seiner Holzschnitt-Serie vom Berg Fujii nur um die Darstellung der Schönheit der Landschaft gegangen sein. Doch darüber hinaus lassen sich viele Spekulationen über die Bedeutung des Werkes anstellen.

So besagt eine weitverbreitete "Die große Welle vor Kanagawa"-Interpretation, dass das Bild den Gegensatz zwischen den verschiedenen Seiten der Natur aufzeigt: Zum einen ist da die überwältigende Schönheit des Meeres mit seinen rauschenden Wellen. Dem gegenüber steht die unbändige Kraft und Zerstörung, die von der Natur ausgehen kann. Auch als Mahnmal für die Vergänglichkeit des Menschen wird der Holzschnitt häufig angesehen, denn die Fischer in ihren Booten sind den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert.

Vielleicht liegt "Die große Welle vor Kanagawa"-Bedeutung aber auch darin, dass die Welle droht, über dem Berg Fujii zusammenzustürzen. Die Gefährdung dieser kulturellen und religiösen Ikone Japans könnte eine Bedrohung des Landes durch ausländische Mächte andeuten. Möglicherweise dient der Fujii als heiliger Berg in diesem Bild aber auch als Ruhepol und Symbol der Hoffnung in schweren Zeiten.

In jüngster Zeit wurde Hokusais fast 200 Jahre alter Holzschnitt immer wieder im Zusammenhang mit dem verheerenden Erdbeben und dem Tsunami im Jahr 2011 zitiert und reproduziert. Vermutlich wird auch jede folgende Generation seine eigene Interpretation dieses zeitlosen Meisterwerks finden.