Künstlerische Fotografie: Das Motiv hinter dem Bild

Künstlerische Fotografie: Das Motiv hinter dem Bild

10.11.22
ars mundi

Seitdem die Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden wurde, entwickelten sich unzählige Subgenres wie die Naturfotografie, wissenschaftliche Fotografie, Schwarzweißfotografie, Porträtfotografie oder Werbefotografie. Diese Genres setzten unterschiedliche Schwerpunkte, hatten aber alle letztlich im Kern zum Ziel, reale Gegenstände abzubilden.

Die künstlerische Fotografie, die sich ab Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte, verfolgt einen gänzlich anderen Ansatz. Sie lässt den reproduktiven Aspekt der Fotografie beiseite und erweitert wesentlich das Spektrum dessen, was ein Foto zu leisten hat. Im Selbstverständnis der Fotokunst wird das Foto zu einem Bestandteil eines künstlerischen Konzeptes und soll Botschaften weit über den Bildinhalt hinaus vermitteln. Die Fotokünstlerinnen und -künstler verbinden mit dem Foto ein Anliegen und wollen Werte und Ideen transportieren oder die Wirklichkeit hinterfragen. Damit wird das Motiv hinter dem Bild wichtiger als das Foto selbst. Das Foto wird zum Symbol transformiert und beginnt damit selbst "Realität zu schaffen".

Die höchste Stufe der Entfernung von der Wirklichkeit erreicht die experimentelle Fotografie, die mit allen herkömmlichen Traditionen von Motivwahl bis Aufnahmetechnik bricht und zum Teil sehr abstrakte Fotokunst produziert. Doch in den Bildthemen, die als Grundlage für die künstlerische Arbeit dienen, ist die Fotokunst aber gar nicht weit von anderen Formen der bildenden Kunst entfernt. Auch hier finden sich Landschaften, Porträts, Akte oder Stillleben. Darüber hinaus bildet die Selbstreflexion des Mediums einen großen Schwerpunkt. Mit verschiedenen Mitteln werden dabei die Sehgewohnheiten hinterfragt, der Abbildcharakter der Fotografie grundsätzlich infrage gestellt und die Grenzen des Mediums ausgelotet.

Thomas Kolenbrander: Bild 'Dahlien 7'

Das Fotografieren als künstlerischer Prozess

Bei der modernen Fotografie ganz generell und der Fotokunst im Besonderen ist es mit dem Drücken des Auslösers nicht getan. Über die Qualität des Fotos bzw. des Kunstwerks entscheiden viele verschiedene Faktoren, die von der Fotokünstlerin oder dem Fotokünstler im Vorfeld, aber auch im Nachgang beeinflusst werden können. Hier wären zum Beispiel die Qualität und die Eigenschaften des Fotoapparats, die Rahmenbedingungen und Parameter des Fotografiervorgangs bis hin zu einer digitalen oder analogen Nachbearbeitung zu nennen.

  • Die richtige Wahl des Fotoapparats: Um Fotos zu machen, stehen heutzutage unzählige Technologien und Geräte zur Auswahl – von der Lochkamera über das Smartphone bis zur digitalen Spiegelreflex-Kamera. Da diese sich hinsichtlich der Qualität deutlich unterscheiden, beeinflusst bereits die Wahl des Fotoapparats maßgeblich das Endergebnis. Heutzutage dürften im Profibereich digitale Kameras am häufigsten zum Einsatz kommen, zum Beispiel eine Spiegelreflex- oder eine Systemkamera. Dank der hohen Auflösung der Kameras, die in Smartphones verbaut sind, werden aber auch diese immer häufiger für die (Kunst-)Fotografie verwendet. Auch analoge Fotoapparate wie zum Beispiel die legendären Hasselblad-Mittelformatkameras haben unter Profifotografen auch heute noch eine große Anhängerschaft. Bei allen Kameramodellen ist die Lichtstärke und der Bildwinkel der Objektive von großer Bedeutung. So können zum Beispiel Weitwinkelobjektive oder die Fischaugen das Motiv bereits bei der Aufnahme maßgeblich verändern bzw. verzerren.
  • Die Inszenierung des Motivs und die Parameter des Ablichtens: Die künstlerische Fotografie beginnt bereits mit der Wahl des Motivs sowie der Umgebung, in der sich dieses befindet. So macht es einen großen Unterschied, ob ein Objekt in einem White Cube oder in einer Landschaft abgelichtet wird. Auch die natürliche oder künstliche Beleuchtung entscheidet über die Atmosphäre und damit auch über die Aussage des Fotos. Ebenso wichtig ist die Entscheidung, ob man ein Farbfoto oder ein Schwarz/Weiß-Foto machen möchte. Schließlich können auch der Bildausschnitt, der Blickwinkel, der Bildaufbau sowie Belichtungszeiten und Tiefenschärfe aus einem dokumentarischen Foto eine künstlerische Fotografie machen.
  • Die Veredelung des Fotos durch analoge und digitale Nachbearbeitung: Bei vielen Fotokünstlerinnen und -künstlern beginnt nach der Aufnahme die eigentliche Arbeit. Je nach Medium gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Foto nachträglich zu verändern. Bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Künstlerinnen und Künstler, die Fotografien mit anderen Techniken zu kombinieren bzw. zu bearbeiten. So integrierten sie die Fotos in Collagen und zerschnitten, überklebten oder übermalten sie. Eine schier endlose Auswahl an möglichen Bearbeitungsvarianten bietet sich mit der digitalen Fotografie. Mit computergestützten Bildbearbeitungsprogrammen lassen sich die Fotos in beinahe jeder erdenklichen Art und Weise manipulieren. In Form von hochauflösenden Ausdrucken können diese digitalen Produkte dann wieder in einer analogen Form präsentiert werden.

Es gibt also viele verschiedene Faktoren, mit denen man den Fotoprozess beeinflussen kann. Die Technik ist aber nur ein Hilfsmittel – die künstlerische Idee, eine Botschaft oder ein Konzept muss vorher vom Künstler entwickelt werden.

Sabine Wild: Bild 'New York II'

Die künstlerische Fotografie musste lang um ihren Status kämpfen

In der heutigen Kunstwelt ist die moderne Fotografie unbestritten als ein wesentlicher Beitrag zur bildenden Kunst anerkannt. Museen und Galerien weltweit widmen sich der Fotokunst in Ausstellungen, an Kunsthochschulen werden entsprechende Studiengänge angeboten und auch auf Auktionen werden immer häufiger Fotos zum Kauf angeboten. Auch in den Sammlungen der größten Museen der Welt ist die künstlerische Fotografie angekommen, zum Beispiel im MoMa, New York, im Whitney Museum of American Art, New York, im Musée d’Orsay, Paris, im Museum Folkwang, Essen oder im Museum für Fotografie, Berlin.

Allerdings musste die Fotografie lange um die Etablierung als gleichberechtigte künstlerische Ausdrucksform kämpfen. Als sie Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden und weiterentwickelt wurde, diente sie zunächst nur zur Abbildung der Realität. Doch bereits Anfang des 20. Jahrhunderts begannen die Dadaisten mit den Fotos bzw. dem Fotoprozess zu experimentieren. In die Kunstmuseen schaffte es die Fotografie aber erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Lang wurde darüber gestritten, worin bei der Fotografie die künstlerische Leistung bestehe und ob Fotos nach den herkömmlichen Maßstäben überhaupt als Kunstwerke zu betrachten seien.

Da diese "moderne" Form der Bilderzeugung sich grundlegend von Malerei und Bildhauerei unterschied, griffen die herkömmlichen Kategorien für Kunst nicht mehr. Die Diskussionen drehten (und drehen sich zum Teil auch heute noch) im Wesentlichen darum, wie viel Handwerk und Kreativität in Fotokunst steckt und wie sich Unikate definieren lassen.

Fotografie vs. Malerei und Skulptur: Neue Maßstäbe für die Kunst

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts definierte sich die künstlerische Leistung durch das Maß an Kreativität sowie die handwerkliche Arbeit. Künstlerinnen und Künstler nahmen für sich in Anspruch, in Gemälden und Skulpturen eine individuelle Interpretation der Realität zu erzeugen.

Für die abstrakte Fotokunst ab dem 20. Jahrhundert existierten sogar gar keine Vorlagen, sondern sie wurden völlig frei assoziiert und förmlich aus dem Nichts heraus geschaffen. Dieser intellektuelle Schaffensprozess wurde anfänglich der Fotografie mit dem Argument abgesprochen, sie bilde einfach nur die Realität Eins zu Eins ab. Um ein bereits vorhandenes Objekt auf Celluloid zu bannen, brauche es keine künstlerischen Fähigkeiten. Gleiches gelte im Übrigen für die handwerkliche Seite.

Malerei und Bildhauerei benötigten jahrelange Übung und Ausbildung und erforderten Begabungen sowohl im Umgang mit Pinsel und Meißel als auch für abstraktes und räumliches Denken. Bei der Fotografie hingegen werde das Werk an sich durch Mechanik und Technik produziert und sei deshalb mit einer "bildenden" Kunst nicht vergleichbar. Heute ist man über diese Ressentiments weit hinaus. Neben den technischen Kompetenzen wird nun auch die kreative Leistung der Fotografie Künstlerinnen und Künstler anerkannt, denn es ist unverkennbar, dass zum Beispiel die Motivwahl, der Bildaufbau, die Inszenierung oder die Nachbearbeitung viel Können und Wissen erfordert.

Als ein weiteres Kriterium für ein Kunstwerk galt lange Zeit die Einmaligkeit des Werks. Naturgemäß fehlt der Fotografie dieser Unikat-Charakter, denn theoretisch lassen sich von einem Foto endlos viele Abzüge machen. Die Sorge einer beliebigen Vervielfältigung ist aber heutzutage völlig unbegründet. Mit Editionen, Limitierungen und einer Kontrolle der Auflagenhöhe lässt sich auch in der Fotografie eine Form der Rarität schaffen.

Fotokunst auf dem Kunstmarkt

Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler konnten sich mit ihren Fotografien bereits weltweit einen Namen machen. Berühmte Künstlerinnen und Künstler der künstlerischen Fotografie sind zum Beispiel Helmut Newton, Anton Corbijn, Peter Lindbergh, Cindy Sherman, Jeff Wall, Andreas Gursky, Barbara Klemm, Edward Ruscha, Candida Höfer, Bernd und Hilla Becher oder Man Ray. Doch auch wenn die Fotografie heute als Bestandteil der bildenden Kunst etabliert ist, bleibt sie auf dem Kunstmarkt noch hinter Malerei und Skulptur zurück. Von dem Ruhm und vor allem den Einkünften bzw. Auktionserlösen der Kolleginnen und Kollegen aus Malerei und Bildhauerei sind die meisten Fotografinnen und Fotografen noch weit entfernt.

Ausnahmen bestätigen hier wie immer die Regel. So versteigerte zum Beispiel das Auktionshaus Christie's in New York 2011 eine Fotografie von Andreas Gursky für die Rekordsumme von 4,3 Millionen US-Dollar. Dies bestätigt zumindest das wachsende Interesse an der Fotografie und ihre Relevanz für die bildende Kunst.