Jugendstil: Aufbruch ins 20. Jahrhundert

Jugendstil: Aufbruch ins 20. Jahrhundert

01.09.22
ars mundi

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gelang in vielen Ländern Europas einem neuen Kunstverständnis der Durchbruch. Unter dem Namen Jugendstil in Deutschland, Art Nouveau in Frankreich, Modern Style in England, Liberty in Italien, Secessionsstil in Österreich oder Modernismo in Spanien proklamierten verschiedene progressive Künstlervereinigungen ein zeitgemäßes Konzept für Kunst, Architektur und Handwerk. Der Jugendstil sollte weltoffen, innovativ und fortschrittlich sein. Seine Kunst sollte nicht nur in Museen ausgestellt werden, sondern Teil des Alltags möglichst vieler Menschen sein. Parallel entwickelten die Künstler eine neue Bild- und Formensprache. Typische Jugendstil Merkmale sind die Verwendung von Ornamenten und floralen Mustern sowie der Bezug zur Natur.

Wie entstand der Jugendstil?

Seinen Ursprung hatte das neue Kunstkonzept in der Situation Ende des 19. Jahrhunderts. Vielen Künstlern in Europa erschien es so, als stecke die Kunst in einer Krise: In den bildenden Künsten dominierte der Historismus, der seine Stilelemente aus verschiedenen vorangegangenen Epochen wie Gotik, Renaissance, Barock oder Romanik rekrutiert hatte. Dieser Rückgriff auf ältere Epochen bot vor allem deshalb Anlass zur Kritik, da sich mit einem an der Vergangenheit orientierten Stil die aktuellen Entwicklungen in Kunst, Kultur und Gesellschaft nicht abbilden ließen. Darüber hinaus standen nicht nur die bildenden Künste, sondern auch Handwerk und Gewerbe in der Kritik. Die fortschreitende Industrialisierung ermöglichte zwar eine moderne Fließbandproduktion, doch hier wurde oftmals zu wenig Wert auf Ästhetik und Qualität gelegt. Das Ergebnis war eine billige Massenware, die oft kitschig und banal daherkam. Außerdem ging mit der rasanten technischen Entwicklung sowie dem Konsumverhalten und neuen Formen der Unterhaltung eine Entfremdung von der Natur einher. Um diesen Missständen und Trends entgegenzuwirken, organisierten sich Maler, Bildhauer, Architekten und Handwerkskünstler in vielen Ländern Europas und setzten sich für einen grundlegenden Wandel in der Kunst und der Gesellschaft ein.

Der Jugendstil als Universalsprache für Kunst, Design und Architektur

Jugendstil, Art Nouveau und andere artverwandte Kunstströmungen strebten ein Umdenken auf mehreren Ebenen an. Zunächst galt es, den konservativen Stil des Historismus zu überwinden. Eine zeitgemäße Kunst könne nicht aus einer Bild- und Formensprache entstehen, die zum Teil schon Jahrhunderte alt sei, so die Überzeugung der Jugendstil Künstler. Die neuen künstlerischen Ausdrucksformen sollten stattdessen originell, individuell und modern sein. Aber die Jugendstil Künstler beschäftigten sich auch mit dem Selbstverständnis der Kunst. Diese sollte sich weniger elitär darstellen und mehr Platz im Alltag der Menschen haben. Eng verbunden damit war die Aufhebung der veralteten Vorstellung von "höheren" und "niederen" Künsten. Im tradierten akademischen Kunstverständnis meinte man, die bildenden Künste als höherwertiger einstufen zu können als die Handwerkskunst und das Design von Alltagsgegenständen. Auch dagegen wehrten sich die Jugendstil Künstler, denn nur mit einer Gleichberechtigung der Disziplinen ließe sich die Kunst im Leben möglichst vieler Menschen verankern. Künstler, Architekten und Handwerkskunst sollten gemeinsam einen Stil entwickeln, der dann in möglichst vielen Lebensbereichen Anwendung finden konnte – von Malerei und Bildhauerei über die Architektur von Gebäuden bis hin zum Design von Schmuck, Mode, Möbeln, Geschirr und vielen anderen Accessoires des Alltags. Bei der Produktion von Gebrauchsgegenständen sollte zudem vermehrt auf hochwertige Materialien, eine solide Verarbeitung und Funktionalität geachtet werden. Grundsätzlich sollten alle Produkte nach Maßgabe des traditionellen Handwerks hergestellt werden, womit man der seelenlosen Massenproduktion entgegenwirken wollte. Die Idee der Jugendstil Künstler von einer – im positiven Sinne – Gebrauchskunst war allerdings nicht ganz neu. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die britische "Arts-and-Crafts"-Bewegung eine ganz ähnliche Philosophie vertreten. Auch ihr war die massenhafte Produktion in den Fabriken ein Dorn im Auge und sie wollte dieser Entwicklung mit künstlerischen Impulsen und einem hohen Qualitätsanspruch etwas entgegenzusetzen. Darüber hinaus verfolgten die "Arts-and-Crafts"-Künstler ebenfalls einen universellen Ansatz, in dem Kunst, Arbeit und Gesellschaft in einem gemeinsamen Kontext gesehen werden sollten.

Jugendstil Merkmale: Mit vielen Ornamenten zurück zur Natur

Für das Konzept einer universellen und zeitgemäßen Kunst brauchte es auch eine neue Bild- und Formensprache. Diese sollte progressiv und innovativ sein und nicht lediglich die Stilmerkmale vergangener Epochen wiederholen, so wie es der Historismus tat. Die Inspiration für die Entwicklung ihres Stils suchten die Jugendstil Künstler in Formen und Mustern, wie sie in der Pflanzenwelt zu finden sind. Mit den Anleihen bei Blumen, Blüten und Bäumen versuchten die Künstler der Jugendstil Epoche dem Publikum die Natur wieder näherzubringen. Dafür kopierten sie die Formen der Pflanzen aber nicht, sondern ließen sich von ihnen zu oftmals abstrakten und verspielten Mustern und Strukturen mit fließenden Linien anregen. Solche floralen Ornamente wurden auch nicht mehr nur als schmückendes Beiwerk verwendet, sondern zum Teil großflächig zelebriert. Doch die Jugendstil Künstler entlehnten nicht nur ihr Design der Flora und Fauna, sondern auch viele ihrer Motive. So machten sie häufig Landschaften, Tiere und Szenen in der Natur zum Thema. Aber auch Porträts gehörten zu den häufigen Sujets. Vor allem Frauen waren hier als Motiv sehr beliebt. Sie galten als Symbole für Natürlichkeit, Schönheit und Harmonie und wurden in weiten, bunten Gewändern, mit wallendem Haar und mit Blumen geschmückt gezeigt. All diese Jugendstil Merkmale legten den Grundstein für die gewünschte Abgrenzung zum Historismus und den Aufbruch in eine moderne Kunst des 20. Jahrhunderts.

Die Jugendstil Epoche prägte nachhaltig die Kunstgeschichte

Auch wenn die Hochphase des Jugendstils nur rund 20 Jahre dauerte, hatte er großen Einfluss auf die Kunst, die Architektur und das Design seiner Zeit und hinterließ darüber hinaus auch Spuren in den Epochen der folgenden Jahrzehnte. So gilt der Jugendstil als bedeutender Impuls für die Entwicklung der Kunst der Moderne und für die Avantgarde am Beginn des 20. Jahrhunderts. Einige der Jugendstil Merkmale und Ideen sollten später in verschiedenen Kunstrichtungen – wenn auch in etwas veränderter Form – wiederzufinden sein, zum Beispiel in Art déco, im Bauhaus oder im Surrealismus. Zudem gingen viele wichtige Künstler aus der Jugendstil Epoche hervor. Im Bereich der Malerei fällt im Zusammenhang mit dem Jugendstil vor allem ein Name: Gustav Klimt. Zweifelsohne brachte sein Wirken die neue Kunstbewegung in Österreich maßgeblich voran. Er schuf mit "Der Kuss" und "Adele Bloch-Bauer I" nicht nur zwei der berühmtesten Gemälde aller Zeiten, sondern er zählte auch zu den Gründern der "Wiener Secession", die als Kunstinstitution mit eigenem Ausstellungshaus und eigener Zeitschrift die Avantgarde in Österreich maßgeblich förderte. Zu den weiteren wichtigen Künstlern der Jugendstil Epoche gehören neben vielen anderen Alphonse Mucha, Josef Hoffmann, Koloman Moser, Louis Comfort Tiffany oder Peter Carl Fabergé. Auch im 21. Jahrhundert sind Jugendstil, Art Nouveau und Co. immer noch außerordentlich gefragt. Einige in der Jugendstil Epoche entstandene Kunstwerke gehören zu den bekanntesten und teuersten der Kunstgeschichte und auch die Jugendstil-Architektur prägt heute noch das Stadtbild vieler europäischer Städte wie Paris, Prag, Wien, Brüssel, Barcelona oder Berlin.