Edvard Munch "Der Schrei" - Mythos und Meilenstein der Kunstgeschichte

Edvard Munch "Der Schrei" - Mythos und Meilenstein der Kunstgeschichte

15.09.22
ars mundi

In der Kunstgeschichte gibt es einige wenige Werke, die es zu Bekanntheit weit über die Kunstwelt hinaus gebracht haben und geradezu Kultstatus erlangten. Zu diesen seltenen Ausnahmewerken sind zum Beispiel Leonardo da Vincis "Mona Lisa", Andy Warhols "Campbell's Soup Cans" und eben auch Edvard Munchs "Der Schrei" zu zählen. Das ikonische Motiv mit einer Gestalt, die vor blutrotem Himmel auf einer Brücke steht und sich mit weit aufgerissenem Mund die Hände an den Kopf hält, hat seit Jahrzehnten seinen festen Platz im kollektiven Gedächtnis. Munch malte von der berühmten Szenerie insgesamt vier Versionen in unterschiedlichen Techniken und Größen und schuf zudem eine Lithografie. Dabei wandelte er das Motiv sowohl in der Farbgestaltung als auch in der Bildkomposition immer etwas ab. Drei der vier Gemälde hängen in verschiedenen Museen, die vierte Version wurde 2012 für 120 Mio. Dollar verkauft und war damit zu dieser Zeit das teuerste Gemälde der Welt.

Das bekannte Bild "Der Schrei" gilt heute als ein Schlüsselwerk des Expressionismus. Unzählige Male wurde sein Hauptmotiv in den letzten Jahrzehnten in die verschiedensten Bereiche der Popkultur reproduziert, zitiert und abgewandelt: So fertigte Andy Warhol Siebdrucke von der Szene an, das Motiv wurde dreidimensional in Skulpturen übersetzt, wie zum Beispiel von Jochen Bauer, und es wird auf Medien wie Postkarten, Poster oder T-Shirts gedruckt. Auch die erfolgreiche Horrorfilmreihe "Scream" bediente sich für die Maske des Protagonisten offenkundig bei Munch und sogar für ein Emoji diente das Gemälde als Vorlage. Diese verschiedenen Hommagen an das "Der Schrei" Bild belegen, dass das bald rund 130 Jahre alte Motiv auch heute noch viele Menschen in seinen Bann zieht.

"Der Schrei" – Das Bild, seine Bedeutung und Entstehungsgeschichte(n)

Edvard Munch hatte 1893 die erste Version des Motivs gemalt. Allerdings ist bis heute nicht endgültig geklärt, was ihn letztlich zu diesem Werk inspirierte. Entsprechend viele Theorien kursieren zum Bild "Der Schrei" und seiner Bedeutung: Eine besagt, dass Munch in dieses Motiv sein eigenes Seelenleben einfließen ließ und er innere Bilder auf die Leinwand brachte. Die düstere Stimmung der Szenerie wäre durchaus typisch für ihn gewesen, denn er hatte in vielen seiner Gemälde seine schwere Lebensgeschichte verarbeitet. Früh hatte er seine Mutter und seine Schwester verloren und kämpfte sein Leben lang mit Depression und Alkoholsucht. So könnte Munch auch in der verzweifelten Gestalt im "Der Schrei" Bild seine Ängste und seine Verzweiflung zum Ausdruck gebracht haben. Andere Theorien zu der Entstehungsgeschichte des Gemäldes gehen hingegen von rein äußeren Einflüssen aus. So erkennen manche Kunsthistoriker in der zentralen Gestalt eine Ähnlichkeit mit einer Mumie. Dies erklären sie sich dadurch, dass Munch 1889 auf der Weltausstellung in Paris Mumien der Inka gesehen habe und sich von den eingeschnürten Körpern inspirieren ließ.

Der glühende Himmel: Vulkanausbruch oder Perlmuttwolken?

Aber auch für den in Rot, Orange und Gelb glühenden Himmel im "Der Schrei" Bild gibt es immer neue Interpretationen und Erklärungsversuche. Häufig ist hierzu die Theorie zu finden, dass Munch sich hier von einem Naturschauspiel inspirieren ließ, das seinen Ursprung in einem Vulkanausbruch gehabt hatte. Im Jahr 1883 war in Indonesien der Krakatau ausgebrochen und hatte große Mengen an Asche und Staub in die Stratosphäre katapultiert. Die Staubwolke verteilte sich über die ganze Welt und sollen noch für viele Jahre für glühend-rote Sonnenuntergänge verantwortlich gewesen sein. Es ist durchaus möglich, dass Edvard Munch diesen Himmel einmal gesehen hatte, denn er schrieb: "Der Himmel wurde plötzlich blutrot. (…) Über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt lagen Blut und Feuerzungen." Daher erscheint es nicht ganz abwegig, dass er von dieser Verfärbung des Himmels beeinflusst worden war.

Bildausschnitt 'Der Schrei' von Edvard Munch

Ebenfalls auf den leuchtenden Himmel beziehen sich die Überlegungen von norwegischen Meteorologen, die allerdings einen ganz anderen Ansatz verfolgen. Ursächlich für die Verfärbung des Himmels sei nicht der Vulkanausbruch gewesen, sondern ein anderes Naturereignis, die sogenannten Perlmuttwolken. Dieses Phänomen, das meteorologisch korrekt "Polare Stratosphärenwolke" heißt, sei nur in den hohen Breitengraden (wie Norwegen) zu beobachten und außerdem sehr selten. Je höher die Sonne am Morgen steigt oder am Abend sinkt, desto intensiver und leuchtender werden die Farben der Wolken. Welches Himmelsereignis es nun war und ob Munch sich hiervon überhaupt hat inspirieren lassen, wird sich wohl nie abschließend klären lassen. Mit größter Wahrscheinlichkeit hatte Munch das Gemälde ohnehin aus seinen Erinnerungen heraus gemalt und damit – ganz in der Denkweise des späteren Expressionismus – beim Malen seine persönlichen Eindrücke und seine Gefühlswelt mit einfließen lassen.

"Der Schrei" und seine Interpretation: Eine rätselhafte Inschrift und ein vermeintlich falscher Bildtitel

Neben den Vermutungen zur Entstehung von Edvard Munchs "Der Schrei" gibt es noch zahlreiche weitere Interpretationen und Analysen rund um dieses legendäre Kunstwerk. Vor allem zwei Forschungsergebnisse hatten in den letzten Jahren für Aufsehen gesorgt. Die eine Untersuchung beschäftigte sich mit dem Titel des Bildes, die andere mit einer rätselhaften Inschrift.

Bildausschnitt 'Der Schrei' von Edvard Munch

An dem Zusammenhang zwischen Bildtitel und Motiv hatte es eigentlich nie ernsthafte Zweifel gegeben. Offenkundig schrie die Person auf dem Gemälde, was auch unmissverständlich aus dem Namen des Gemäldes hervorging. Das British Museum präsentierte 2019 aber eine gänzlich andere Interpretation. Den Kunsthistorikern zu Folge schreie die Person gar nicht, sondern höre vielmehr einen Schrei. Den Ausschlag für diese Deutung gab eine Notiz, die Munch auf einer Vorarbeit hinterlassen hatte. "Ich fühlte das große Geschrei durch die Natur", ist dort zu lesen. Dies lege den Schluss nahe, dass der Mund des Protagonisten aus Schreck geöffnet sei und er sich die Ohren zuhalte. Einen Beleg dafür, ob Munch den Schrei tatsächlich gehört habe, oder eine Erklärung, woher er gestammt haben könnte, bleiben die Wissenschaftler allerdings schuldig.

Lange Zeit gab ebenfalls eine kaum sichtbare Bleistift-Inschrift Rätsel auf, die auf der ersten Version des Bildes aus dem Jahr 1893 zu erkennen ist. "Kann nur von einem Verrückten gemalt worden sein!", steht dort auf Norwegisch und es war völlig, unklar von wem und von wann sie stammte. Im Jahr 2021 kam aus dem Nationalmuseum Oslo die Meldung, dass Munch höchstwahrscheinlich den Satz selbst auf das Gemälde geschrieben hatte. Dies belegten Vergleiche der Handschrift des Satzes mit Munchs Tagebüchern und Briefen. Über seine Intention kann hingegen nur spekuliert werden. Eine Vermutung besagt, es handele sich um einen ironischen Kommentar Munchs zu öffentlichen Spekulationen über seinen Geisteszustand.

Vielen Fragen rund um Edvard Munchs "Der Schrei" konnten also schon geklärt werden, doch der Mythos dieses Meilensteins der Kunstgeschichte lebt weiter und wird wahrscheinlich auch noch die Phantasie vieler weiterer Generationen beflügeln.