Stillleben: Die Schönheit im Alltäglichen

Stillleben: Die Schönheit im Alltäglichen

29-09-2022
ars mundi

Pablo Picassos "Nature morte aux tulipes" (Stillleben mit Tulpen), Paul Cézannes "Bouilloire et fruits" (Krug mit Früchten) oder Vincent van Goghs "Vase avec marguerites et coquelicots" (Vase mit Kornblumen und Klatschmohn) – für weit über 40 Millionen Dollar wurden diese Stillleben verkauft und stehen damit auf der Liste der teuersten Gemälde aller Zeiten. Nicht zuletzt hier zeigt sich, dass dieses Genre seit vielen Jahrhunderten sowohl bei Künstlerinnen und Künstlern als auch beim Publikum äußerst beliebt ist. Dies liegt vielleicht auch daran, dass die Stillleben keine berühmten Persönlichkeiten, dramatischen Sonnenuntergänge oder Schlachtenszenen zeigen, sondern ganz alltägliche Gegenstände, die aber sehr ästhetisch und virtuos arrangiert sind. So gehören Blumen, Früchte, Küchenutensilien, Wild, Fisch, Bücher, Kerzen, Uhren und Insekten zu ihren typischen Bildobjekten. Welche Gegenstände letztlich ausgewählt werden, wie viele es sind und wie sie im Bild zusammengestellt werden, kann sich je nach Stil, Bildthema und gewünschter Symbolik verändern. Die Bezeichnung "Stillleben" geht auf das niederländische "Still Leven" zurück, das Anfang des 18. Jahrhunderts gebräuchlich wurde, parallel konnte sich auch das französische "Nature Morte" durchsetzen. Viele berühmte Künstlerinnen und Künstler der letzten 300 Jahre haben sich mit diesem Sujet beschäftigt, zum Beispiel Auguste Renoir, Claude Monet, Lovis Corinth, Alexej von Jawlensky, Max Beckmann, Paula Modersohn-Becker, Giorgio de Chirico, Kurt Schwitters, Andy Warhol, Markus Lüpertz oder Jeff Wall.

Stillleben 'Schwertlilien' von Vincent van Gogh

Seit dem 17. Jahrhundert ist das Stillleben ein beliebtes Sujet

Die Darstellung von alltäglichen Gegenständen in Kunstwerken ist bereits seit der Antike bekannt, doch um sich zu einem eigenständigen Genre zu entwickeln, brauchte das Stillleben noch einige Jahrhunderte. Seine Anfänge gehen sowohl auf die altägyptische als auch die antike griechische und römische Kultur zurück. Aus dieser Zeit sind Wandbilder, Mosaike oder Reliefs bekannt, die der Idee des Stilllebens bereits sehr nahekamen. Auch aus den folgenden Epochen wie der Renaissance kennt man vereinzelt ähnliche Werke, doch im Wesentlichen wurden die Arrangements von Gegenständen lange Zeit nur als Staffagen in Szenen eingesetzt, in denen Personen im Mittelpunkt standen. Von einer Entwicklung des Stilllebens zum selbständigen Bildthema kann erst ab etwa dem 17. Jahrhundert gesprochen werden. Ab dem Barock komponierten immer mehr Künstler in ganz Europa ihre Bilder aus schlichten Alltagsgegenständen. Besonders in den Niederlanden, aber auch in Spanien und Italien erfreuten sich diese Gemälde zunehmender Beliebtheit. Im 18. Jahrhundert flachte mit dem Klassizismus das Interesse an der Stilllebenmalerei etwas ab, aber im 19. Jahrhundert waren es dann vor allem die Impressionisten, die mit Studien von Blumen, Obst, Waffen oder gedeckten Tischen dieses Genre wieder aufnahmen. In den folgenden Epochen konnte sich das Stillleben schließlich als eigenständiges Sujet etablieren und die Künstlerinnen und Künstler fanden immer neue und zeitgemäße Interpretationen. So griffen in der Malerei des frühen 20. Jahrhunderts sowohl die Kubisten wie Pablo Picasso und Georges Braque als auch die Expressionisten von "Brücke" und "Blauer Reiter" dieses Motiv auf. Auch in den folgenden Stilen wie Surrealismus und Pop-Art blieb das Stillleben ein wichtiges Genre. Mit den "Readymades" entwickelte Marcel Duchamp – wenn man so möchte – sogar dreidimensionale Versionen der Stillleben. Heute findet sich die Idee, verschiedene Alltagsgegenstände ästhetisch zu drapieren und abzubilden, neben der Kunst auch in anderen Lebensbereichen wieder. Vor allem in der Fotografie – hier besonders in der Werbefotografie – entwickelte sich die Inszenierung von Alltagsgegenständen zu einer eigenständigen Disziplin. Und seitdem Smartphones über hochauflösende Kameras verfügen, sind Fotos von Mahlzeiten aus den Timelines von Facebook, Instagram und Co. kaum mehr wegzudenken.

Was ist ein Stillleben? Die Merkmale eines facettenreichen Genres

Auch wenn das Stillleben in den Kunstepochen der letzten Jahrhunderte oftmals sehr unterschiedlich ausgelegt wurde, haben sich seine charakteristischen Merkmale kaum geändert. Bis in die Gegenwartskunst, in der Stillleben modern interpretiert werden, zeigen diese Gemälde fast ausschließlich leblose Gegenstände des Alltags. Besonders häufig werden Blumen, Früchte, Gemüse, erlegtes Wild und Fisch, Backwaren, Geschirr und Besteck, Waffen, Bücher oder Musikinstrumente gemalt. Die große Kunst besteht dabei im sorgfältigen Arrangement der Objekte, ihrer Ausleuchtung sowie ihrer malerischen Ausgestaltung. Auch wenn die Stillleben teils höchst detailliert ausgeführt sind, geht es bei dieser Form der Malerei nicht darum, die Objekte möglichst realistisch abzubilden. Vielmehr gaukeln sie nur eine Wahrhaftigkeit vor und liefern immer nur eine Illusion von der Realität. In ihrer oftmals perfekten, opulenten und sinnlichen Ausführung lassen die Künstlerinnen und Künstler die Gemälde zum Spiegel der Sehnsüchte und Wünsche der Betrachtenden werden.

Aber auch mit Blick auf den Malprozess weist das Stillleben einige Besonderheiten auf. Gegenüber anderen Genres wie Porträts oder Landschaften bewegen bzw. verändern sich hier die Bildgegenstände auch über einen langen Zeitraum nicht. Daher eignen sich diese Motive besonders gut für ausgiebige Studien und Auseinandersetzungen mit den Objekten. Viele Künstlerinnen und Künstler übten daher auch an den Stillleben ihre Fähigkeiten, den Raum, das Licht, die Farbkomposition und die Perspektive darzustellen. So soll auch Vincent van Gogh dieses Genre genutzt haben, verschiedene Mal- und Darstellungsmöglichkeiten auszuprobieren und mit dem Auftrag von Farbe zu experimentieren. "Stillleben sind der Anfang von allem", soll der niederländische Maler einmal gesagt haben.

Stillleben 'Stillleben mit Orangen, Bananen, Zitronen und Tomate' von Paula Modersohn-Becker

In Stillleben spielt die Symbolik der Objekte eine wichtige Rolle

Neben der kunstvollen Darstellung und Inszenierung der Bildgegenstände ist in den Stillleben die Symbolik der Objekte von großer Bedeutung. Sowohl in ihrer Gesamtheit als auch einzeln verweisen viele Bildgegenstände auf eine zweite Deutungsebene. So gelten große Bouquets von Blumen oder Früchten als Zeichen von Wohlstand, vor allem, wenn sie offensichtlich exotischen Ursprungs sind. Auch Jagdstillleben mit Wildtieren und Waffen repräsentieren einen gewissen Luxus, ebenso die Gemälde mit reichlich gedeckten Tafeln. Aber auch einzelne Objekte können für den Bildinhalt wichtige Botschaften tragen. So steht zum Beispiel der Zucker für die Wollust und die Zitrone für die Mäßigung. Brot und Wein gelten als Hinweise auf das christliche Abendmahl und Austern symbolisieren die sündige Verlockung. Der Efeu und die Kornähren können ewiges Leben und Wiedergeburt anzeigen und blühende Blumen symbolisieren meist die Liebe und die Schönheit. Bestimmte Blumensorten haben darüber hinaus noch speziellere Bedeutungen, wie zum Beispiel die Nelken oder dornige Rosen, die beide an das Leiden Christi erinnern sollen. Zu einem eigenen Subgenre haben sich die sogenannten Vanitas-Gemälde entwickelt. Anhand von verschiedenen Gegenständen wird hier auf die Vergänglichkeit des Menschen hingewiesen, um die Betrachtenden zu einer moralischen Reflexion ihres Lebensstils und ihres Daseins anzuregen. So weist ein Totenschädel unmissverständlich auf das Ende des Lebens hin. Etwas subtiler, aber in ihrer symbolischen Bedeutung ähnlich sind brennende Kerzen, Uhren bzw. Sanduhren, zerbrochenes Glas, welkende Blumen, faulendes Obst sowie Käfer, Würmer oder Fliegen. Allerdings ist in der Geschichte des Stilllebens der Symbolgehalt und der belehrende Charakter immer unbedeutender geworden und hinter den ästhetischen Bildeindruck zurückgetreten. Die charakteristischen Bildelemente aber sind geblieben und auch noch in zeitgenössischen Werken, die Stillleben modern interpretieren, wiederzufinden.