Phantastischer Realismus: die Erschaffung einer neuen Wirklichkeit
Mitte des 20. Jahrhunderts fand sich in Wien eine Gruppe junger, avantgardistischer Künstlerinnen und Künstler zusammen und hob einen neuen Malstil aus der Taufe: den Phantastischen Realismus. Die Kunstschaffenden wollten keine Abbilder der Welt schaffen, aber ebenso wenig folgten sie der immer populärer werdenden Abstraktion. Vielmehr malten sie weiterhin gegenständlich, zeigten dabei aber eine sehr individuelle Interpretation der Realität. Ihre Kunst war erkennbar vom Surrealismus beeinflusst, entwickelte sich aber in Richtung eines eigenständigen Stils weiter. In surrealen, bisweilen bizarren Bildkompositionen präsentierten sie eine fantastische Welt zwischen Wahrheit, Vision und Wahn.
Der Phantastische Realismus: Wien als Ursprung der Kunstbewegung
Die Keimzelle der Kunst des Phantastischen Realismus lag in Österreich. Ab Mitte der 1940er-Jahren formierte sich in der Hauptstadt die "Wiener Schule des Phantastischen Realismus". Zu deren ersten Mitgliedern gehörten Arik Brauer, Ernst Fuchs, Rudolf Hausner, Wolfgang Hutter und Anton Lehmden.
Zwei weitere Malerpersönlichkeiten hatten ebenfalls maßgeblichen Anteil an der Entstehung des Phantastischen Realismus: Edgar Jené und Albert Paris Gütersloh. Letzterer lehrte von 1945 bis 1962 als Professor an der Wiener Akademie der Bildenden Künste. Zu seinen Studierenden gehörten viele der späteren Vertreterinnen und Vertreter der Kunstbewegung. Neben seiner Lehrtätigkeit leitete er als Präsident den "Art-Club" in Wien. Hier tauschten sich junge avantgardistische Künstlerinnen und Künstler aller Genres und Stile aus und initiierten gemeinsame Ausstellungen.
Ebenfalls großen Einfluss auf die Wiener Schule des Phantastischen Realismus hatte der aus dem Saarland stammende Edgar Jené. Er förderte bereits nach dem Zweiten Weltkrieg den Surrealismus in Wien und organisierte erste Ausstellungen. Damit wurde er für die Kunstschaffenden des Phantastischen Realismus zu einer wichtigen Identifikationsfigur.
In Wien hatten die jungen Künstlerinnen und Künstler auch ihre erste große Ausstellung. 1959 zeigten die Phantastinnen und Phantasten im Belvedere ihre Werke und sorgten mit ihrem fantastisch-figurativen Stil für großes Aufsehen. Es schlossen sich weitere Ausstellungen im In- und Ausland an. Heute gilt der Phantastische Realismus als eine der international erfolgreichsten Kunstströmungen aus Österreich.
Auf der Suche nach der wahren Realität
Die Künstlerinnen und Künstler des Phantastischen Realismus weigerten sich, die Wirklichkeit als gegeben zu betrachten und sie lediglich abzubilden. Vielmehr lag ihnen daran, mit ihrer Kunst hinter den äußeren Schein der Welt zu blicken. Die Bilder sollten verborgene Geheimnisse aufdecken und den Zugang zur Wahrheit ermöglichen.
Ernst Fuchs (1930 – 2015) betrachtete die Malerei als eine Bildsprache, in der er die geheimsten Vorgänge seiner Seele und auch des Zeitgeschehens aufspüren könne. Er sei auf der Suche nach dem, was an den äußeren Hüllen der Welt nicht gleich erkennbar sei. Das Malen sei für ihn eine Art "waches Träumen". Auch Arik Brauer (1929 – 2021) wollte die Dinge nicht so malen, wie man sie sieht, sondern was sie wirklich darstellten. Sein Ziel war es, die Welt mit all ihren positiven und auch negativen Facetten zu zeigen.
Unverkennbar standen die Kunstschaffenden des Phantastischen Realismus in ihrer Grundannahme dem Surrealismus sehr nahe. Auch ihre Werke wirken fantastisch, traumwandlerisch und irreal. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Stilen aber lag im Prozess des Malens. Für die Surrealistinnen und Surrealisten bestand die Quelle ihrer Inspiration in der freien Fantasie, im Unterbewusstsein und Unbewussten. Um Zugang zu den Tiefen ihrer Psyche zu erlangen, experimentierten sie mit intuitiven und automatisierten Malweisen, um den künstlerischen Impuls so ungefiltert wie möglich auf die Leinwand bringen zu können. Manche gingen sogar so weit, das Denken völlig ausschalten zu wollen.
Diese impulsive Bildgestaltung lehnten die Künstlerinnen und Künstler des Phantastischen Realismus aber grundsätzlich ab. Sie entwickelten klare Vorstellungen von ihren Bildkonzepten und setzten diese kontrolliert an der Leinwand um. Statt intuitiv und spontan zu malen, legten sie viel Wert auf eine technisch perfekte Ausführung mit einem großen Detailreichtum. Damit distanzierten sie sich auch von der Abstraktion, die in den 1950er-Jahren ihren Siegeszug begann: Sie beharrten auf der Gegenständlichkeit, was gegenüber dem Kunst-Establishment, das gerade die abstrakte Malerei zu feiern begann, geradezu einer offenen Provokation gleich kam.
Phantastischer Realismus: Merkmale und Motive der Malerei
Der Malstil des Phantastischen Realismus entwickelte sich nicht völlig autark, sondern wurde vorangegangenen Epochen beeinflusst. Die Impulse stammten von verschiedenen anderen Stilen wie dem Magischen Realismus, dem Manierismus sowie der Alten Meister des Mittelalters, der Renaissance und des Barock.
Die wichtigste Inspirationsquelle aber war sicherlich der Surrealismus. Insbesondere bei den Bildthemen war die Nähe zu den Surrealistinnen und Surrealisten offensichtlich. Auch die Phantastischen Realistinnen und Realisten malten keine naturalistischen Abbilder der Welt. Vielmehr präsentierten sie unwirkliche Szenen, in denen sie Traumhaftes, Reales, Mystisches und Übersinnliches miteinander verschmelzten. Ihre Inspiration fanden sie in Emotionen und dem persönlichen Seelenleben, aber auch in Schriften wie etwa der Bibel, antiken Mythen oder in fantastischen Erzählungen.
Die Bandbreite der Motive reichte von betörend-schönen Pseudo-Landschaften und erotischen Fantasien über apokalyptische Szenen bis hin zu Tieren und Fabelwesen. Grundsätzlich sahen sich die Phantastischen Realistinnen und Realisten der Gegenständlichkeit verpflichtet, doch sie verfremdeten ihre Motive zum Teil bis ins Groteske und Absurde. Bisweilen mündete die übersteigerte Darstellungsweise auch in einer subtilen Ironie. So skurril und verdreht die Bildgegenstände auch waren – die Kunstschaffenden legten immer Wert auf eine technisch und handwerklich hochwertige Ausführung, bei der die Objekte sehr detailliert dargestellt wurden.
Die Phantastische Malerei brachte erfolgreiche Künstler hervor
Für einige Mitglieder war die "Wiener Schule des Phantastischen Realismus" ein Sprungbrett für eine große Karriere: Ernst Fuchs etwa galt als das Universalgenie der Gruppe. Zu seinem Œuvre zählten nicht nur Malerei und Grafik, sondern auch Bildhauerei, Bühnenbilder, Architektur, Musik und Dichtkunst. Unter seinen Mitstreitenden genoss er wegen seines großen Talents hohes Ansehen. Sogar Salvador Dalí, Galionsfigur des Surrealismus, bewunderte ihn und soll ihn als den "Dalí der Deutschen" bezeichnet haben. Ernst Fuchs stellte seine Werke auf der ganzen Welt aus und erhielt zahlreiche öffentliche Auszeichnungen. Die weltweit größte Sammlung seiner Werke wird heute im von ihm selbst noch zu Lebzeiten eröffneten "Ernst Fuchs Museum" in Wien gezeigt.
Ebenfalls zur Schule des Phantastischen Realismus gehörte der Maler Rudolf Hausner. Bereits 1959 konnte er seine Werke auf der documenta II zeigen, darauf folgten zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland. Er wurde sowohl zum Hochschulprofessor an die Hochschule für bildende Künste in Hamburg als auch an die Akademie der bildenden Künste in Wien berufen. Hausner erhielt mehrfach Preise und Auszeichnungen, zum Beispiel den Burda-Preis für Malerei in München oder den Österreichischen Staatspreis für Malerei.
Aber auch in Deutschland fand der Phantastische Realismus Anhänger. Einer der bekanntesten Vertreter war der Maler, Grafiker und Bildhauer Paul Wunderlich. Sein Werk wurde international mit Preisen gewürdigt, zum Beispiel in Deutschland, Frankreich und Italien. Er lehrte als Professor an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und erhielt 1997 das Bundesverdienstkreuz. Seine Ausstellungstätigkeit führte ihn rund um den Globus, u.a. nach Minneapolis, Paris, Tokio und Brüssel, und auch zur documenta III war er eingeladen.
Ein ikonisches Werk, das heute stellvertretend für diesen Malstil stehen würde – wie etwa "Adele Bloch-Bauer I" von Gustav Klimt für den Jugendstil oder "Der blaue Reiter" von Franz Marc für den Expressionismus – hat die Kunst des Phantastischen Realismus zwar nicht hervorgebracht. Aber das Publikum zeigt sich fortwährend fasziniert von den fantastisch-skurrilen und dabei auch oftmals sehr dekorativen Werken. Bis heute finden regelmäßig Ausstellungen zu diesem Stil statt und erfreuen sich größter Beliebtheit.