Van Goghs Ohr - eine der berühmtesten Legenden der Kunstwelt

Van Goghs Ohr - eine der berühmtesten Legenden der Kunstwelt

30.05.24
ars mundi

Es ist wohl eine der bekanntesten Anekdoten der Kunstgeschichte - die Geschichte von Vincent van Goghs Ohr. Dabei ist vieles rund um die Ereignisse am 23. Dezember 1888 immer noch unklar. Fest steht, dass van Gogh an diesem Abend sein linkes Ohr bzw. große Teile davon verlor.

Die Frage, die bis heute die Kunstwelt beschäftigt, lautet: Warum hat sich van Gogh das Ohr abgeschnitten? Und es schließen sich weitere Fragen zu diesem denkwürdigen Tag vor Weihnachten in der Provence an: Verletzte sich van Gogh tatsächlich selbst oder wurde er Opfer einer Gewalttat? Welche Rolle spielte eine Prostituierte? Hatte sein Malerkollege Paul Gauguin etwas damit zu tun? Oder lösten van Goghs familiäre Umstände die Tat aus?

Antworten bzw. Mutmaßungen über die Umstände, unter denen der berühmte niederländische Maler sein Ohr einbüßte, kursieren viele. Drei der populärsten Theorien um Van Goghs Ohr sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Vincent van Gogh "schenkte" sein Ohr einer Prostituierten

Nach der gängigsten Theorie soll sich am Tag vor Weihnachten 1888 Folgendes im französischen Ort Arles abgespielt haben: Vincent van Gogh habe sich in dieser Zeit in einem sehr schlechten Zustand befunden. Er habe unter Schlafstörungen gelitten und viel Alkohol getrunken. Vor allem sei oftmals Absinth im Spiel gewesen, dem nachgesagt wird, Halluzinationen und psychotische Zustände hervorzurufen.

Ohnehin soll van Gogh immer wieder psychische Probleme gehabt haben. Es war also vermutlich das Zusammenspiel mehrerer Faktoren, das ihn an diesem Abend zu seinem Handeln veranlasste: Schwer betrunken hatte er sich zum örtlichen Bordell begeben - mit einer blutenden Wunde am Kopf. In der Hand hielt er - je nach Quelle - sein linkes Ohr bzw. ein Stück davon. Er wollte es seiner Lieblingsprostituierten Rachel "schenken". Dies soll er - ebenfalls abhängig von der jeweiligen Überlieferung - mit den Worten "Du wirst Dich meiner erinnern, das sag ich Dir" oder "Bewahre diesen Gegenstand gut auf" getan haben.

Die Prostituierte sei daraufhin in Ohnmacht gefallen. Van Gogh selbst wurde am nächsten Morgen von der Polizei aufgefunden. Er hatte viel Blut verloren und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. An die Ereignisse selbst fehlten ihm nach eigener Aussage jegliche Erinnerungen.

Paul Gauguin war maßgeblich in den Vorfall verwickelt

Nach einer weiteren Theorie soll der Maler Paul Gauguin eine bedeutende Rolle bei dem Geschehen gespielt haben. Vincent van Gogh hatte ihn 1887 in Paris kennengelernt und lud ihn ein, ihn in Arles zu besuchen. Van Gogh hatte geplant, hier mit dem "Atelier des Südens" eine Künstler-WG zu gründen. Paul Gauguin folgte dem Ruf van Goghs - nicht zuletzt, weil er sich einen finanziellen Vorteil von dem Aufenthalt erhoffte.

Ab Oktober 1888 wohnten und arbeiteten sie zusammen, doch die beiden Künstler harmonierten nicht sonderlich gut. Häufig stritten sie sich, was am Abend des 23.12. dann endgültig eskalieren sollte. Van Gogh soll nach einem Streit in Rage geraten sein. Er habe erst Gauguin mit einem Rasiermesser bedroht, sich dann aber im Wahn selbst das Ohr abgeschnitten.

Folgt man der Theorie der Autorinnen und des Autoren Rita Wildegans und Hans Kaufmann, sei Gauguin sogar der eigentliche Täter gewesen. Ihnen zufolge sei Gauguin von van Gogh provoziert worden. Daraufhin habe er zum Degen gegriffen und van Gogh das linke Ohr abgetrennt. Im Anschluss habe Gauguin Arles fluchtartig in Richtung Paris verlassen. Auch die Legende, dass sich van Gogh die Verletzung selbst zugefügt habe, sei von Gauguin in die Welt gesetzt worden, um den Verdacht von sich abzulenken.

Familiäre Gründe waren der Auslöser für die Selbstverletzung

Der britische Journalist Martin Bailey stellte 2016 eine weitaus weniger dramatische Erklärung zu van Goghs Ohr vor. Nach Auswertung der Korrespondenz der Familie van Gogh geht er ebenfalls davon aus, dass sich Vincent selbst am Ohr verletzte. Allerdings präsentierte er einen anderen Grund für die Tat. Nicht ein akuter Wahnzustand, sondern die Verlobung von Vincents Bruder Theo sei der Auslöser für die Selbstverstümmelung gewesen.

An jenem schicksalsträchtigen Tag habe er durch einen Brief davon erfahren, dass Theo seine Hochzeit mit der Kunstsammlerin Johanna Bonger plane. Diese Nachricht habe Vincent schwer getroffen. Theo bedeutete ihm sehr viel. Er hatte ihm stets in schweren Zeiten zur Seite gestanden. Nicht zuletzt hatte Theo durch seine großzügige finanzielle Unterstützung Vincents künstlerische Arbeit ermöglicht. Vincent habe nun befürchtet, durch die Verlobung seinen engsten Vertrauten zu verlieren. Auch habe er sich Sorgen gemacht, dass Theo die Zahlungen einstellen könnte. Diese Nachricht sei in seiner ohnehin labilen seelischen Lage der Auslöser für die Verzweiflungstat gewesen.

Vincent van Gogh - weit mehr als der Maler mit abgeschnittenem Ohr

Welche dieser drei Versionen über Van Goghs Ohr nun der Wahrheit entsprechen oder ob es doch alles ganz anders ablief, wird sich vermutlich nie mehr zweifelsfrei klären lassen. So werden die Ereignisse rund um das Weihnachtsfest 1888 zu Van Goghs Ohr auch weiterhin für Spekulationen sorgen.

Sicher ist, dass der Vorfall in Arles durchaus Folgen für van Goghs künstlerische Biografie hatte. So porträtierte er sich im Anschluss an das Geschehen in mindestens zwei Bildnissen selbst - mit einem sehr auffälligen Verband um den Kopf. Außerdem begab sich van Gogh im Mai 1889 in die Nervenheilanstalt von Saint-Rémy-de-Provence. Aus Sorge um seine psychische Gesundheit hatte er sich selbst eingewiesen. Hier stand er unter ärztlicher Beobachtung, hatte aber Zugang zu Leinwand und Farben, sodass er weiter malen konnte.

In dieser Phase schuf er etwa 150 impressionistische Bilder und zahlreiche Zeichnungen, darunter bedeutende Werke wie

Damit war der 23.12.1888 bzw. seine Folgen auch für die Kunstgeschichte von größter Bedeutung.

Besonders außerhalb der Kunstwelt wird Vincent van Gogh aber vor allem als der Maler mit abgeschnittenem Ohr im Gedächtnis bleiben. Doch so faszinierend das Mysterium um sein Ohr auch sein mag, und auch wenn immer wieder von Halluzinationen und seinem vermeintlichen "Wahnsinn" gesprochen wird - letztlich zählt nur seine großartige künstlerische Lebensleistung.

Mit seinem visionären Malstil zählt er zu den bedeutenden Wegbereitern der Modernen Malerei. Für viele der nachfolgenden Kunstepochen wie Expressionismus und Fauvismus legte er mit seiner Arbeit den Grundstein.